ein historischer Reisebericht aus dem Jahre 2012 aus den Forum zu dem Thread:
www.sardinienforum.de
Durch die Straßen von Lollove
Die Strecke von Cagliari nach Lollove kann man eigentlich nicht wirklich als eine Reise bezeichnen. Nennen wir es deshalb einfach mal "einen etwas anderen Tag" erleben. Bei der Entdeckung eines besonderen Ortes. Hierbei haben wir unsere gemachten Erfahrungen, Erlebnisse und Eindrücke aus jeweils zwei unterschiedlichen "Blickwinkeln" beschrieben.
Carlotta.
Orte wie Lollove findet man nicht einfach so per Zufall. Entweder ist man von der richtigen Strasse abgekommen, ist falsch abgebogen oder man hat schlicht ein Straßenschild verwechselt. Lollove liegt so versteckt. So als ob es versucht, sich vor Zeit und Gegenwart zu schützen. Gleichsam einer Nonne, die ein Gelübde vor Gott ablegt und Jungfrau bleibt. Genauso wie Gavina. Sie lebt hier bereits seit 92 Jahren und ihr bester Freund ist der Pfarrer und ob der Frage, ob sie aufgrund ihres Vermögens nie geheiratet habe: "Nein, ich habe keins und ich habe auch nie geheiratet. Niemals!"
Während des Tages bewegt sich hier nur der Wind. Man hört den langsamen und gleichmäßigen Hufschlag eines Pferdes durch das kleine Dorf hallen, welches keinen Zement kennt. Und dann hört man die Schweine, die sich Schmutz verschmiert an den Holzzäunen der Verschläge ihre Schwarte reiben. Aber hernach ist es, als gebe es kein anderes Leben. Und auch keine anderen Geräusche.
Andrea.
Ich dachte an den Fluch, der über Lollove schwebt, der da lautet: "Du sollst sein wie das Meer, wachse und sterbe niemals!" und in etwa ähnlich der Entstehungslegende des Meerwassers, welches durch die vergossenen Tränen von Nonnen entstand, nachdem sie im Land brutal verfolgt, gefangen und gesteinigt wurden. Von dieser Legende jedenfalls kennt Frau Gavina viele Versionen. Vielleicht sind aber auch gerade diese Nonnen nach Lollove gekommen und haben um ein Almosen gebettelt und wurden – im Angesicht der Barmherzigkeit – wieder fort geschickt. Jedenfalls erzählt die offizielle Version eine andere Geschichte und spricht von deren Techtelmechteln mit den Hirten des Dorfes. Letztendlich ist es unerheblich, wie auch immer sich diese Geschichten zugetragen haben mögen
Jedenfalls ist noch nie ein Fluch so genau eingetreten. Lollove wächst nicht, das ist sicher, und bis jetzt stirbt es auch nicht. Vielmehr erscheint es in einem gewissen Sinne „stehen geblieben zu sein“ und lebt trotz all seiner Abgeschiedenheit.
Ein Ort, wo es einem so vorkommt, als dass sogar die Blätter sich seit Jahrhunderten nicht bewegen… und wenn, dann nur ganz leicht durch den Wind.
C.
Mein Reisebegleiter hat seinen Blick über die Berge und den Himmel schweifen lassen, die Lollove wie einen schönen Fluch überragen. A.’s Gesichtsausdruck verfinstert sich ein wenig, so als ob diese ganze Lautlosigkeit ihm auf die Nerven geht. Er nimmt sein Notizbuch, einen Stift und schaut beides gedankenverlorenen an. Er schreibt etwas und kurz darauf hält er inne, um dann wieder weiter zu schreiben. Nun will er ein Foto machen. Jetzt wird’s heikel.
Denn jedes Foto lässt die innere Spannung rapide ansteigen, weil es insgesamt nur ganze 12 Fotos auf dem Rollfilm dieses hochmodernen Retro-Fotoapparates gibt, der so gut wie nichts wiegt und aussieht wie ein Spielzeug. Und selbst wenn der Aufnahmewinkel nicht perfekt ist: „Das Wichtigste sind die Farben“. Und wie immer das Motiv auch ist oder das Foto sein wird, „es wird die Schuld der LOMO sein“ , merkt A. so ganz nebenbei an, der die Filmrolle nämlich genau falsch herum eingelegt hat.
A.
Während der Woche ist nahezu niemand hier, so Frau Gavina, die vor ihrem Haus sitzt ("in der Vitrine", sagt man) und den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten lässt. Es ist ein Pferd, dass die Besucher am Dorfeingang begrüßt sowie ein paar Katzen, die der Sonne überdrüssig sind. Es gibt Viehhalter hier, die kommen und gehen nach Nuoro und das fast jeden Tag.
Dann, am Wochenende kehren auch diejenigen nach Lollove zurück, die in der Stadt arbeiten und nach wie vor ihr Haus hier haben. In diesen Momenten kommt wieder ein wenig Leben ins Dorf. Plötzlich ein unerwartetes Schnappschuss-Motiv.
In einem Garten liegt vergessenes Spielzeug auf dem Boden, Lebenszeichen von Kindern, welches in einem kurzen Aufleuchten vor dem geistigen Auge – es auch schon fast direkt wieder verlöschen lässt, wenn man sich dies zusammen mit den verfallenden Häusern des Ortes vorstellt.
Man stelle sich nur einmal vor, dass an Samstagen und Sonntagen, durch die mit Moos und Unkraut bedeckten, grobhauigen Pflastersteinstrassen laut lärmend einige Kinder laufen und so die Grabesruhe mit Lachen und Schreien stören. Dieses Kinderspielzeug jedenfalls scheint zumindest ein erstes, wenn auch schüchternes Anzeichen für eine Zukunft Lolloves zu sein – zur Zeit allerdings nur rein hypothetisch.
C.
"In Lollove spürt man den Atem Gottes." Gavina schnippt mit den Fingern und mit einem kurzen Lachen schaut sie dabei in die Runde, so als ob man ihr nicht glauben würde. Aber ich glaube ihr. Ich sehe es. Und ich höre es.
Diese alte Frau ist erstaunlicherweise klar bei Verstand - trotz aller Falten die das Alter in ihre Haut gegraben haben – und sie ist die Schlüsselhüterin des Dorfes. Sie lebt in Lollove seit ihrer Geburt. Und - um es vorwegzunehmen: „Gedrucktes gibt es noch nicht recht lange hier!“ und dennoch ist ihr Italienisch sicher und einwandfrei und lässt jeden erstaunen. Man könnte stundenlang da bleiben und ihr zuhören.
Ihr umfangreicher Wortschatz ist geprägt von Gläubigkeit und Erinnerungen. Gewohnheiten werden zu Ritualen. Sie verbringt zum Beispiel ganze Tage sitzend an der Wand vor ihrem Haus, um Gebete zu lesen, und die Geschichten der "besonders wundertätigen Heiligen" kennt sie jedenfalls alle.
In der Zwischenzeit aber macht sie immer wieder mal irgendetwas anderes. Jetzt nimmt sie sich gerade einen Korb mit Bohnen und sortiert diese geschwind ohne auch nur näher hinzuschauen. Es ist erstaunlich, denn die kleinen Bohnen sind eigentlich nur schwerlich zu erkennen. „Sie sehe hervorragend“, so Gavina, obwohl „der Doktor nicht einmal die Brille hatte, die er mir verschrieben hat“.
A.
Es war bereits auf dem Rückweg, als ich wegen einer Frage darüber nachdachte zu Frau Gavina – dem historischen Gedächtnis des Dorfes – zurückzukehren, deren herzhaftes Lachen so ‚ansteckend’ wirkt und mit welchem sie die Aufmerksamkeit derjenigen auf sich zieht, die bereit sind, sich zu ihr zu setzen und sich ihre Geschichten anzuhören.
Sie erzählte von der Ehe, die der Pfarrer einst mit einem seiner Freunde vorgeschlagen hatte, ein reicher Mann zur jener Zeit als es noch in dem Lied hieß: "was könnt' ich alles tun hätt' ich nur 1.000,-- LIRE im Monat“ und das auch nur, weil er ein Vielfaches davon besaß. Aber Gavina interessierte das nicht. "Warum gerade ich, wo ich doch bereits schon damals so unsterblich in die Freiheit verliebt war", so sprudelt es aus ihr heraus - eine recht nonkonformistische Ansicht in Anbetracht ihres Alters und der ‚historischen’ Zeit in der sie ihre Jugend erlebte – eine Ansicht jedenfalls, die verblüffend und erheiternd zugleich ist.
<<Und oft hörte ich die verheirateten Frauen sagen "Oh je, wenn ich doch nur zurück könnte" ...wie heißt es doch so schön?
Die Ehe ist wie eine bezwungene Festung, wenn Du drin bist, dann willst Du raus und wenn Du draußen bist dann willst Du rein.>>
Sie litt an Klaustrophobie, so sagt sie, und da kann man nicht diese Liebe zur Freiheit eintauschen gegen einen Eintritt in die „Festung“ eines Mannes, der mehr als 1.000,-- LIRE verdient, was übrigens zur damaligen Zeit ein stattliches Einkommen war.
Schade, dass mir erst später während der Rückfahrt nach Hause in den Sinn kam sie zu fragen, was für sie denn genau das Wort Freiheit bedeute.
C.
Freiheit? Ich glaube, daß für sie die Freiheit schon jeden Morgen mit dem Aufwachen beginnt und sie dann bereits den Atem Gottes verspürt.
Es ist der Duft ihrer Blumen, die sie hegt und pflegt wie ihre Kinder. Und anschließend verbringt sie ihre Tage in einem einfachen Tagesablauf, so wie sie es bereits seit jeher gewohnt ist, begleitet von gewohnten Ritualen, ähnlich der Heimkehr der Jäger bei Sonnenuntergang.
Und in der Zwischenzeit liest sie vielleicht zum x-ten Male nochmals ihr Lieblingsbuch von Grazia Deledda, über das sie gerne mit allen spricht, die bei ihr vorbeikommen, so wie mit uns. Und wer weiß, vielleicht fallen ihre Antworten beim nächsten Mal dann völlig anders aus.
Könntest Du so leben? In einem Ort außerhalb von Zeit, ohne Verkehr, ohne Lärm, ohne die Lichter der Großstadt…
A.
Leben in einem Ort wie Lollove? Lollove ist wie sich in einem Ort des Friedens zu baden, in welchem das Leben scheinbar ruht.
Ein wenig so, als ob man aufs Meer schaut.
Diese Vorstellung dämpft zwar irgendwie die innere Unruhe, aber anstatt dessen bist Du dann damit und mit Dir so ziemlich allein. Hier gibt es kein Meer, sondern nur eine endlose Weite mit Felsen, Bergen und Bäumen, verfallenen Häusern und Wege und Pfade auf denen niemand läuft.
Es herrscht eine Stille, die alles und jedes buchstäblich aufsaugt. Eine gedämpfte Stille, wenn man bereits die eigene Stimme gebraucht und selbst diese hat man dann schon manchmal als das einzig Dröhnende empfunden – um es drastisch auszudrücken!
Die Wege und Gassen des Dorfes sind jedenfalls lang…
Lollove ist einer jener Orte an die man mit Freude denkt, dass es sie noch gibt. Aber ...
C.
Sicher ist, daß Orte wie Lollove irgendetwas in einem zurücklassen. Irgendetwas Zwiespältiges!
Ein wenig Frieden und ein wenig Einsamkeit. Authentizität und Trostlosigkeit. Fluch und Segen zugleich. Die Widersprüche könnten kaum heftiger sein. Auch ich kann mich dem überhaupt nicht entziehen. Entweder wird man hier zum Poeten oder man macht sich zum Narr'n.
Wie auch immer, ... mir fällt gerade ein, da Du meine Stimme so sehr magst, Dir auf der Heimreise über all' dies etwas vorzusingen…
© Übersetzung aus dem Italienischen
- alle Rechte vorbehalten -
Lollove - 16. September - Fest der " Sant' Eufemia"
Lollove (40°19′0″N 9°20′0″E - Gemeinde Nuoro auf Sardinien) , ist wohl mit Abstand die kleinste Ortschaft auf Sardinien mit nur ca. 30 Einwohnern. Am 16. September wird dort das Fest der "Sant' Eufemia di Calcedonia" als grosses Fest gefeiert. Sant'Eufemia di Calcedonia gilt dort als...
Durch die Straßen von Lollove
Die Strecke von Cagliari nach Lollove kann man eigentlich nicht wirklich als eine Reise bezeichnen. Nennen wir es deshalb einfach mal "einen etwas anderen Tag" erleben. Bei der Entdeckung eines besonderen Ortes. Hierbei haben wir unsere gemachten Erfahrungen, Erlebnisse und Eindrücke aus jeweils zwei unterschiedlichen "Blickwinkeln" beschrieben.
Carlotta.
Orte wie Lollove findet man nicht einfach so per Zufall. Entweder ist man von der richtigen Strasse abgekommen, ist falsch abgebogen oder man hat schlicht ein Straßenschild verwechselt. Lollove liegt so versteckt. So als ob es versucht, sich vor Zeit und Gegenwart zu schützen. Gleichsam einer Nonne, die ein Gelübde vor Gott ablegt und Jungfrau bleibt. Genauso wie Gavina. Sie lebt hier bereits seit 92 Jahren und ihr bester Freund ist der Pfarrer und ob der Frage, ob sie aufgrund ihres Vermögens nie geheiratet habe: "Nein, ich habe keins und ich habe auch nie geheiratet. Niemals!"
Während des Tages bewegt sich hier nur der Wind. Man hört den langsamen und gleichmäßigen Hufschlag eines Pferdes durch das kleine Dorf hallen, welches keinen Zement kennt. Und dann hört man die Schweine, die sich Schmutz verschmiert an den Holzzäunen der Verschläge ihre Schwarte reiben. Aber hernach ist es, als gebe es kein anderes Leben. Und auch keine anderen Geräusche.
Andrea.
Ich dachte an den Fluch, der über Lollove schwebt, der da lautet: "Du sollst sein wie das Meer, wachse und sterbe niemals!" und in etwa ähnlich der Entstehungslegende des Meerwassers, welches durch die vergossenen Tränen von Nonnen entstand, nachdem sie im Land brutal verfolgt, gefangen und gesteinigt wurden. Von dieser Legende jedenfalls kennt Frau Gavina viele Versionen. Vielleicht sind aber auch gerade diese Nonnen nach Lollove gekommen und haben um ein Almosen gebettelt und wurden – im Angesicht der Barmherzigkeit – wieder fort geschickt. Jedenfalls erzählt die offizielle Version eine andere Geschichte und spricht von deren Techtelmechteln mit den Hirten des Dorfes. Letztendlich ist es unerheblich, wie auch immer sich diese Geschichten zugetragen haben mögen
Jedenfalls ist noch nie ein Fluch so genau eingetreten. Lollove wächst nicht, das ist sicher, und bis jetzt stirbt es auch nicht. Vielmehr erscheint es in einem gewissen Sinne „stehen geblieben zu sein“ und lebt trotz all seiner Abgeschiedenheit.
Ein Ort, wo es einem so vorkommt, als dass sogar die Blätter sich seit Jahrhunderten nicht bewegen… und wenn, dann nur ganz leicht durch den Wind.
C.
Mein Reisebegleiter hat seinen Blick über die Berge und den Himmel schweifen lassen, die Lollove wie einen schönen Fluch überragen. A.’s Gesichtsausdruck verfinstert sich ein wenig, so als ob diese ganze Lautlosigkeit ihm auf die Nerven geht. Er nimmt sein Notizbuch, einen Stift und schaut beides gedankenverlorenen an. Er schreibt etwas und kurz darauf hält er inne, um dann wieder weiter zu schreiben. Nun will er ein Foto machen. Jetzt wird’s heikel.
Denn jedes Foto lässt die innere Spannung rapide ansteigen, weil es insgesamt nur ganze 12 Fotos auf dem Rollfilm dieses hochmodernen Retro-Fotoapparates gibt, der so gut wie nichts wiegt und aussieht wie ein Spielzeug. Und selbst wenn der Aufnahmewinkel nicht perfekt ist: „Das Wichtigste sind die Farben“. Und wie immer das Motiv auch ist oder das Foto sein wird, „es wird die Schuld der LOMO sein“ , merkt A. so ganz nebenbei an, der die Filmrolle nämlich genau falsch herum eingelegt hat.
A.
Während der Woche ist nahezu niemand hier, so Frau Gavina, die vor ihrem Haus sitzt ("in der Vitrine", sagt man) und den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten lässt. Es ist ein Pferd, dass die Besucher am Dorfeingang begrüßt sowie ein paar Katzen, die der Sonne überdrüssig sind. Es gibt Viehhalter hier, die kommen und gehen nach Nuoro und das fast jeden Tag.
Dann, am Wochenende kehren auch diejenigen nach Lollove zurück, die in der Stadt arbeiten und nach wie vor ihr Haus hier haben. In diesen Momenten kommt wieder ein wenig Leben ins Dorf. Plötzlich ein unerwartetes Schnappschuss-Motiv.
In einem Garten liegt vergessenes Spielzeug auf dem Boden, Lebenszeichen von Kindern, welches in einem kurzen Aufleuchten vor dem geistigen Auge – es auch schon fast direkt wieder verlöschen lässt, wenn man sich dies zusammen mit den verfallenden Häusern des Ortes vorstellt.
Man stelle sich nur einmal vor, dass an Samstagen und Sonntagen, durch die mit Moos und Unkraut bedeckten, grobhauigen Pflastersteinstrassen laut lärmend einige Kinder laufen und so die Grabesruhe mit Lachen und Schreien stören. Dieses Kinderspielzeug jedenfalls scheint zumindest ein erstes, wenn auch schüchternes Anzeichen für eine Zukunft Lolloves zu sein – zur Zeit allerdings nur rein hypothetisch.
C.
"In Lollove spürt man den Atem Gottes." Gavina schnippt mit den Fingern und mit einem kurzen Lachen schaut sie dabei in die Runde, so als ob man ihr nicht glauben würde. Aber ich glaube ihr. Ich sehe es. Und ich höre es.
Diese alte Frau ist erstaunlicherweise klar bei Verstand - trotz aller Falten die das Alter in ihre Haut gegraben haben – und sie ist die Schlüsselhüterin des Dorfes. Sie lebt in Lollove seit ihrer Geburt. Und - um es vorwegzunehmen: „Gedrucktes gibt es noch nicht recht lange hier!“ und dennoch ist ihr Italienisch sicher und einwandfrei und lässt jeden erstaunen. Man könnte stundenlang da bleiben und ihr zuhören.
Ihr umfangreicher Wortschatz ist geprägt von Gläubigkeit und Erinnerungen. Gewohnheiten werden zu Ritualen. Sie verbringt zum Beispiel ganze Tage sitzend an der Wand vor ihrem Haus, um Gebete zu lesen, und die Geschichten der "besonders wundertätigen Heiligen" kennt sie jedenfalls alle.
In der Zwischenzeit aber macht sie immer wieder mal irgendetwas anderes. Jetzt nimmt sie sich gerade einen Korb mit Bohnen und sortiert diese geschwind ohne auch nur näher hinzuschauen. Es ist erstaunlich, denn die kleinen Bohnen sind eigentlich nur schwerlich zu erkennen. „Sie sehe hervorragend“, so Gavina, obwohl „der Doktor nicht einmal die Brille hatte, die er mir verschrieben hat“.
A.
Es war bereits auf dem Rückweg, als ich wegen einer Frage darüber nachdachte zu Frau Gavina – dem historischen Gedächtnis des Dorfes – zurückzukehren, deren herzhaftes Lachen so ‚ansteckend’ wirkt und mit welchem sie die Aufmerksamkeit derjenigen auf sich zieht, die bereit sind, sich zu ihr zu setzen und sich ihre Geschichten anzuhören.
Sie erzählte von der Ehe, die der Pfarrer einst mit einem seiner Freunde vorgeschlagen hatte, ein reicher Mann zur jener Zeit als es noch in dem Lied hieß: "was könnt' ich alles tun hätt' ich nur 1.000,-- LIRE im Monat“ und das auch nur, weil er ein Vielfaches davon besaß. Aber Gavina interessierte das nicht. "Warum gerade ich, wo ich doch bereits schon damals so unsterblich in die Freiheit verliebt war", so sprudelt es aus ihr heraus - eine recht nonkonformistische Ansicht in Anbetracht ihres Alters und der ‚historischen’ Zeit in der sie ihre Jugend erlebte – eine Ansicht jedenfalls, die verblüffend und erheiternd zugleich ist.
<<Und oft hörte ich die verheirateten Frauen sagen "Oh je, wenn ich doch nur zurück könnte" ...wie heißt es doch so schön?
Die Ehe ist wie eine bezwungene Festung, wenn Du drin bist, dann willst Du raus und wenn Du draußen bist dann willst Du rein.>>
Sie litt an Klaustrophobie, so sagt sie, und da kann man nicht diese Liebe zur Freiheit eintauschen gegen einen Eintritt in die „Festung“ eines Mannes, der mehr als 1.000,-- LIRE verdient, was übrigens zur damaligen Zeit ein stattliches Einkommen war.
Schade, dass mir erst später während der Rückfahrt nach Hause in den Sinn kam sie zu fragen, was für sie denn genau das Wort Freiheit bedeute.
C.
Freiheit? Ich glaube, daß für sie die Freiheit schon jeden Morgen mit dem Aufwachen beginnt und sie dann bereits den Atem Gottes verspürt.
Es ist der Duft ihrer Blumen, die sie hegt und pflegt wie ihre Kinder. Und anschließend verbringt sie ihre Tage in einem einfachen Tagesablauf, so wie sie es bereits seit jeher gewohnt ist, begleitet von gewohnten Ritualen, ähnlich der Heimkehr der Jäger bei Sonnenuntergang.
Und in der Zwischenzeit liest sie vielleicht zum x-ten Male nochmals ihr Lieblingsbuch von Grazia Deledda, über das sie gerne mit allen spricht, die bei ihr vorbeikommen, so wie mit uns. Und wer weiß, vielleicht fallen ihre Antworten beim nächsten Mal dann völlig anders aus.
Könntest Du so leben? In einem Ort außerhalb von Zeit, ohne Verkehr, ohne Lärm, ohne die Lichter der Großstadt…
A.
Leben in einem Ort wie Lollove? Lollove ist wie sich in einem Ort des Friedens zu baden, in welchem das Leben scheinbar ruht.
Ein wenig so, als ob man aufs Meer schaut.
Diese Vorstellung dämpft zwar irgendwie die innere Unruhe, aber anstatt dessen bist Du dann damit und mit Dir so ziemlich allein. Hier gibt es kein Meer, sondern nur eine endlose Weite mit Felsen, Bergen und Bäumen, verfallenen Häusern und Wege und Pfade auf denen niemand läuft.
Es herrscht eine Stille, die alles und jedes buchstäblich aufsaugt. Eine gedämpfte Stille, wenn man bereits die eigene Stimme gebraucht und selbst diese hat man dann schon manchmal als das einzig Dröhnende empfunden – um es drastisch auszudrücken!
Die Wege und Gassen des Dorfes sind jedenfalls lang…
Lollove ist einer jener Orte an die man mit Freude denkt, dass es sie noch gibt. Aber ...
C.
Sicher ist, daß Orte wie Lollove irgendetwas in einem zurücklassen. Irgendetwas Zwiespältiges!
Ein wenig Frieden und ein wenig Einsamkeit. Authentizität und Trostlosigkeit. Fluch und Segen zugleich. Die Widersprüche könnten kaum heftiger sein. Auch ich kann mich dem überhaupt nicht entziehen. Entweder wird man hier zum Poeten oder man macht sich zum Narr'n.
Wie auch immer, ... mir fällt gerade ein, da Du meine Stimme so sehr magst, Dir auf der Heimreise über all' dies etwas vorzusingen…
© Übersetzung aus dem Italienischen
- alle Rechte vorbehalten -