C.
"In Lollove spürt man den Atem Gottes." Gavina schnippt mit den Fingern und mit einem kurzen Lachen schaut sie dabei in die Runde, so als ob man ihr nicht glauben würde. Aber ich glaube ihr. Ich sehe es. Und ich höre es.
Diese alte Frau ist erstaunlicherweise klar bei Verstand - trotz aller Falten die das Alter in ihre Haut gegraben haben – und sie ist die Schlüsselhüterin des Dorfes. Sie lebt in Lollove seit ihrer Geburt. Und - um es vorwegzunehmen: „Gedrucktes gibt es noch nicht recht lange hier!“ und dennoch ist ihr Italienisch sicher und einwandfrei und lässt jeden erstaunen. Man könnte stundenlang da bleiben und ihr zuhören.
Ihr umfangreicher Wortschatz ist geprägt von Gläubigkeit und Erinnerungen. Gewohnheiten werden zu Ritualen. Sie verbringt zum Beispiel ganze Tage sitzend an der Wand vor ihrem Haus, um Gebete zu lesen, und die Geschichten der "besonders wundertätigen Heiligen" kennt sie jedenfalls alle.
In der Zwischenzeit aber macht sie immer wieder mal irgendetwas anderes. Jetzt nimmt sie sich gerade einen Korb mit Bohnen und sortiert diese geschwind ohne auch nur näher hinzuschauen. Es ist erstaunlich, denn die kleinen Bohnen sind eigentlich nur schwerlich zu erkennen. „Sie sehe hervorragend“, so Gavina, obwohl „der Doktor nicht einmal die Brille hatte, die er mir verschrieben hat“.
A.
Es war bereits auf dem Rückweg, als ich wegen einer Frage darüber nachdachte zu Frau Gavina – dem historischen Gedächtnis des Dorfes – zurückzukehren, deren herzhaftes Lachen so ‚ansteckend’ wirkt und mit welchem sie die Aufmerksamkeit derjenigen auf sich zieht, die bereit sind, sich zu ihr zu setzen und sich ihre Geschichten anzuhören.
Sie erzählte von der Ehe, die der Pfarrer einst mit einem seiner Freunde vorgeschlagen hatte, ein reicher Mann zur jener Zeit als es noch in dem Lied hieß: "was könnt' ich alles tun hätt' ich nur 1.000,-- LIRE im Monat“ und das auch nur, weil er ein Vielfaches davon besaß. Aber Gavina interessierte das nicht. "Warum gerade ich, wo ich doch bereits schon damals so unsterblich in die Freiheit verliebt war", so sprudelt es aus ihr heraus - eine recht nonkonformistische Ansicht in Anbetracht ihres Alters und der ‚historischen’ Zeit in der sie ihre Jugend erlebte – eine Ansicht jedenfalls, die verblüffend und erheiternd zugleich ist.
<<Und oft hörte ich die verheirateten Frauen sagen "Oh je, wenn ich doch nur zurück könnte" ...wie heißt es doch so schön?
Die Ehe ist wie eine bezwungene Festung, wenn Du drin bist, dann willst Du raus und wenn Du draußen bist dann willst Du rein.>>
Sie litt an Klaustrophobie, so sagt sie, und da kann man nicht diese Liebe zur Freiheit eintauschen gegen einen Eintritt in die „Festung“ eines Mannes, der mehr als 1.000,-- LIRE verdient, was übrigens zur damaligen Zeit ein stattliches Einkommen war.
Schade, dass mir erst später während der Rückfahrt nach Hause in den Sinn kam sie zu fragen, was für sie denn genau das Wort Freiheit bedeute.
C.
Freiheit? Ich glaube, daß für sie die Freiheit schon jeden Morgen mit dem Aufwachen beginnt und sie dann bereits den Atem Gottes verspürt.
Es ist der Duft ihrer Blumen, die sie hegt und pflegt wie ihre Kinder. Und anschließend verbringt sie ihre Tage in einem einfachen Tagesablauf, so wie sie es bereits seit jeher gewohnt ist, begleitet von gewohnten Ritualen, ähnlich der Heimkehr der Jäger bei Sonnenuntergang.
Und in der Zwischenzeit liest sie vielleicht zum x-ten Male nochmals ihr Lieblingsbuch von Grazia Deledda, über das sie gerne mit allen spricht, die bei ihr vorbeikommen, so wie mit uns. Und wer weiß, vielleicht fallen ihre Antworten beim nächsten Mal dann völlig anders aus.
Könntest Du so leben? In einem Ort außerhalb von Zeit, ohne Verkehr, ohne Lärm, ohne die Lichter der Großstadt…
A.
Leben in einem Ort wie Lollove? Lollove ist wie sich in einem Ort des Friedens zu baden, in welchem das Leben scheinbar ruht.
Ein wenig so, als ob man aufs Meer schaut.
Diese Vorstellung dämpft zwar irgendwie die innere Unruhe, aber anstatt dessen bist Du dann damit und mit Dir so ziemlich allein. Hier gibt es kein Meer, sondern nur eine endlose Weite mit Felsen, Bergen und Bäumen, verfallenen Häusern und Wege und Pfade auf denen niemand läuft.
Es herrscht eine Stille, die alles und jedes buchstäblich aufsaugt. Eine gedämpfte Stille, wenn man bereits die eigene Stimme gebraucht und selbst diese hat man dann schon manchmal als das einzig Dröhnende empfunden – um es drastisch auszudrücken!
Die Wege und Gassen des Dorfes sind jedenfalls lang…
Lollove ist einer jener Orte an die man mit Freude denkt, dass es sie noch gibt. Aber ...
C.
Sicher ist, daß Orte wie Lollove irgendetwas in einem zurücklassen. Irgendetwas Zwiespältiges!
Ein wenig Frieden und ein wenig Einsamkeit. Authentizität und Trostlosigkeit. Fluch und Segen zugleich. Die Widersprüche könnten kaum heftiger sein. Auch ich kann mich dem überhaupt nicht entziehen. Entweder wird man hier zum Poeten oder man macht sich zum Narr'n.
Wie auch immer, ... mir fällt gerade ein, da Du meine Stimme so sehr magst, Dir auf der Heimreise über all' dies etwas vorzusingen…
© Übersetzung aus dem Italienischen
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